Lichtblicke für eine menschenwürdige Geburtshilfe


Visionen, Träume und Bilder einer Hebamme für eine neue Geburtskultur

Das Dilemma zwischen der heutigen Geburtsmedizin und der ursprünglichen Intuition einer Frau entwickelte sich über die Jahre. Statt einer menschenwürdigen Geburtshilfe, formte sich eine Geburtsmedizin, welche nicht den Geburtsprozess unterstützt, sondern engt, ängstigt und verunsichert.

 

Ich suche also nach Bildern, Visionen und Träumen, die dem Leben wieder zur Bindung verhelfen.

Wenn das Leben uns enttäuscht, bringt es uns an unser innerstes Vertrauen

Dort wo wir keine Macht haben und blind sind - an diesem Ort treffen wir für uns eine Entscheidung, wie wir mit dem Leben unterwegs sein wollen. Das braucht Zeit und die Entscheidungen und Strategien sind unterschiedlich.

Beziehung ist Leben

Unsere Ansicht etwas kontrollieren zu müssen oder kontrollieren zu können, ist nur Ausdruck des fehlenden Vertrauens. Leben will keine Kontrolle. Wir können mit dem Leben in Beziehung treten. Wir können es in seiner Einmaligkeit erkennen. Wir können über die Physiologie staunen und uns ehrfurchtsvoll vor ihr verneigen.

 

Wenn wir das Leben heiligen, heiligt es uns zurück.

 

Das heisst, wenn wir dem Körper und seiner Physiologie, vertrauen, sie achten und ehren, werden sie uns dienen. Wenn wir den Körper mit seiner Physiologie wie ein Gegenüber betrachten, wie ein Du, dann können wir mit ihm in Beziehung gehen.

 

Wenn wir dem Du und Gegenüber Respekt, Achtung und Vertrauen gegenüber bringen, fühlt es sich wertvoll, gebraucht und kriegt Lust mit uns in eine wertschätzende Beziehung zu gehen. Das heisst in unserem Beispiel: Ich vertraue der Plazenta und dem Kind, dass es den Zeitpunkt der Geburt weise zu wählen weiss. Und dass es mir bei Schwierigkeiten genug Zeichen gibt, zu erkennen, dass etwas nicht gut ist. Das bedeutet für mich und die Mutter, dass wir auch auf einer anderen Ebene eine Beziehung pflegen, die uns Sicherheit und Vertrauen schenkt. Die Zeichen sind immer erst das letzte, was sich zeigt. Davor kommt: eine Unruhe, Gedanken und ein aufgeregter, suchender Blick, um Zeichen zu erkennen, die Aufschluss geben.

 

Wenn es gut ist, spüre ich eine Verbindung zum Kind in Form von inneren Bildern, es ist eine Art von Kommunikation möglich und ich erhalte Antworten, die mich beruhigen.

 

Meine Gedanken kommen zur Ruhe und ich kann in einer Form von Stille ausruhen. Der Körper der Frau wird wie durchsichtig und die Hormone zeigen sich in ihrem ausgeglichenen Tanz. Die Frau ruht mit Oxytozin-Augen in ihrem Glück und spürt das Kommen des Kindes immer mehr. Diese Gefühlsebene erscheint mir näher am Leben, als eine Zahl und bringt mich in Verbindung mit mir und dem andern - in die Beziehung.

Wahrhaftigkeit birgt mehr Raum

Welche Ängste haben wo ihren Ursprung?  Eine Zahlenangst oder die Angst vor einer Anklage hat ihren Ursprung in einem inneren Kopf-Bild. Es hat keinen Bezug zu etwas aktuell Lebendigem, sondern ist nur ein Glaube.

 

Wenn wir in unserem Sehen oder Spüren, unsere eigenen Ängste fokussieren, sehen wir im andern nur uns selbst. Wenn wir erkennen, was unserem Handeln zugrunde liegt und das benennen können, tragen wir mehr zur Menschlichkeit bei.

Präsenz reicht 

Glaube, jemand anderes könne für uns Verantwortung übernehmen, ist ein Trugschluss. Wir können einander begleiten, ermutigen, beistehen, zusprechen, trösten, zuhören, beraten, massieren, halten, etc. und in all dem den andern nicht allein lassen, sondern Da-Sein.

All unser Handeln hat eine Wirkung 

Unser Vertrauen, Abwarten, Raum-Geben, unsere Beziehungsarbeit wirkt neben den medizinischen Handlungen vielleicht unbedeutend. Aber genau das ermöglicht es der Frau und dem Kind ihre eigene Verantwortung zu übernehmen. Man darf sich dem weisen Wissen öffnen, um wenig tun zu müssen.

Ein tragender Kreis begleitet die Geburt

Wie wäre eine Geburt, begleitet von einem tragenden Kreis, der die äussere Sicherheit bietet, damit die Frau in sich ruhend mit ihren inneren Kräften und dem Kind in Kontakt bleiben kann? 

 

Einmal hatte ich bei einer aussergewöhnlichen Geburt eine Doula, eine Mutter und Sängerin und den Mann dabei und spürte das grosse Feld, welches unterstützend und haltend da war. Desto grösser der tragende Kreis, desto weniger wird der Schmerz. Gerade bei schwierigen Geburten könnten wir ein grosses Feld kreieren. Dieses wohlwollende Feld dient der Frau und dem Kind, indem es mit ihr an das Leben, die Physiologie und das Gute glaubt. 

 

In früheren Kulturen waren die Frauen umringt von einem Kreis aus Frauen, die selbst geboren haben und sie ermutigten, kochten, sangen, massierten, ausharrten, trösteten, streichelten, strickten, etc. So alltäglich diese Handlungen erscheinen, so sind sie mehr ein Ausdruck des gelebten Miteinanders und der Normalität des Lebens als jegliche Art der geburtshilflichen Intervention. Sie tragen damit mehr zum Gelingen bei.

Kultivieren wir das Bild der gesättigten, von Glück erfüllten Schwangeren. Ich musste einmal diese überfliessende Fülle von Geburtshilfe erleben, um zu erkennen, wie „arm“ unsere Frauen in die Geburt gehen.

 

       Die Frau, die erfüllt ist von ihrem Glück, Schöpferin zu sein, findet in sich die Zuversicht: "Ich kann das!".

 

Sie spürt in sich die Intuition für sich und ihr Kind und erkennt damit ihre Bedürfnisse. Sie wird von einem Feld unterstützt, welches an sie und ihr Kind glaubt und in ihrem Sinne Lösungen sucht. Sie ist nicht allein. Ein ganzes „Dorf“ nimmt Anteil an ihrem Schicksal. 

 

Heute sind die Frauen zwar schwanger, doch erfahren sie während der Schwangerschaft kaum "artgerechte" Unterstützung, die ihrem Schöpferzustand Rechnung trägt. In der ersten Phase, in der die Einnistungshormone sie stark körperlich fordert, dürfen sie kaum sagen, dass sie schwanger sind. Die Medizin kennt keine Formen der Förderung und Anerkennung des Lebens, sondern tut so, als könnte sie es kontrollieren und stiftet damit mehr Angst und Unsicherheit. Die Geburt findet in den meisten Fällen bei fremden Fachleuten in einer ungewöhnlichen Umgebung statt. So hat die Frau zur Bewahrung ihrer puren Integrität nur noch die Möglichkeit, in sich die Lösung zu finden, wie sie und das Kind mit ihren Kräften durch die Geburt kommen. Tatsächlich eine gute Strategie, weil es alle Ressourcen in der Frau mobilisiert. Es ist auch genau dieser Kampfgeist, der der Frau hilft, ihre Geburt zu gestalten. Doch entbehrt sie jegliche Form des Miteinanders. Unser Miteinander kostet gleich. 

 

Darum stelle ich mir gerne einen runden Gebärraum vor. Begleitet wird die Frau bereits in der Schwangerschaft von einer Frauengruppe, in der sich die Schöpferin als wertvoller Teil erfährt. Damit macht sie die Erfahrung, dass sie sein darf, wie sie ist: mal schwach, inspiriert, freudig, klagend, lebendig. Sie spürt in tragenden Liedern und Tänzen das Grosse-Tragende und kommt damit in Berührung mit dem Transzendenten. Sie lernt durch Massagen und Rituale das Geben und Empfangen in einer Gruppe. So lernt sie Intuition, Hingabe und wird konditioniert in ein tragendes Feld.

 

Geburt wird zur Bereitschaft, der Natur in uns Raum zu geben, auf dass sie durch uns wirken kann. 

Das starke Aeussere schützt das weiche Innere

Ich sehe die Mutter als Raum für das Kind. Die Mutter-Kind-Einheit ist der innere sichtbare Kreis. Um sie sind alle die, diesen inneren Kreis schützen. Ich sehe ihn als eine Frauengruppe. Schützen heisst für mich: heilighalten, ehren, begleiten, respektieren, akzeptieren, unterstützen, an das Gesunde glauben und Ressourcen fördern. Und nicht: Krankheit ausschliessen. 

 

Dann gibt es einen dritten Kreis, welche die zwei inneren Kreise schützt. Diesen Kreis sehe ich als Männergruppe, die das Weibliche oder scheinbar Schwache und den Schöpfungsakt ehren und beschützen.

Die Gesetze sollen dem Leben dienen

Die Gesellschaft ist über all die Jahre gewachsen und geformt worden. Ich will mich nicht von einer Formung einschüchtern lassen, die ich nicht als richtig empfinden kann. Eine Frau in ihren „schweren Stunden“ alleine zu lassen, nur weil ich gesellschaftlich-rechtlich nicht mehr sicher bin, ist nicht richtig. Aus dieser Sicht ist es eine überlebens-strategisch richtige, aber irgendwie auch eine verquere Überlegung: ich tu etwas nicht, damit ich gesellschaftlich geschützt bin, um länger mehr Frauen begleiten zu können. Die Angst um das Scheitern im Kopf lähmt uns. Sie macht nicht frei und gibt dem Leben nicht die Möglichkeit, die in uns steckt. Deshalb will ich diesen Missstand benennen. Noch füge ich mich dem gesellschaftlichen Druck, mache das, was angepasst ist und schütze, wo ich kann. Aber es bietet den Schöpferinnen dieser Gesellschaft noch nicht das Potenzial, welches da wäre.

Gemeinsam eine erweiterte Sprache finden

Einmal fand eine Drittgebärende zu mir, die zweimal viel geblutet hatte nach den Geburten. Nach der ersten Geburt durfte sie nicht mehr im Geburtshaus gebären. Im Spital trat die Blutung wieder auf. In der dritten Schwangerschaft arbeitet sie viel mit der Entdeckung und Bewahrung ihrer eigenen Integrität und ich konnte zusehen, wie sie mehr und mehr in ihre innere Verantwortung, Kraft oder Macht hineinwuchs.  Sodass ich ihr sagen konnte: mit dieser Qualität wirst du das, was zu dir gehört, behalten können. Sie gebar normal daheim. 

 

Bei einer anderen Frau, einer Erstgebärenden, merkte ich in mir eine innere Unruhe. Ich suchte ständig nach Aufmerksamkeitszeichen bei der Frau und schickte sie häufig zur Gynäkologin. Die Frau fühlte sich an, als hätte sie ein "Loch in der Aura", durch welches plötzlich etwas Unerwartetes kommen könnte, was ich nicht sehen konnte. Ich besprach es mit der Frau, sowie mit der Gynäkologin und wir spürten alle, was damit gemeint war. Sie gebar im Spital und hatte tatsächlich hinterher eine Blutung. 

 

Als Hebamme empfinde ich Geburtshilfe nicht als etwas Gefährliches, wo Unerwartetes einfach geschieht. Es gibt fast immer vorausgehende Zeichen. Die Frauen sind in dieser Zeit so mit ihrer Intuition, dem Leben und dem Kind verbunden, ihr Empfinden ist so offen, dass sie keine Schwierigkeiten haben, in die Zukunft zu spüren, wenn wir sie dazu ermutigen und nicht hindern.

 

Lasst uns offen werden für eine erweiterte Sprache, für das, was noch keinen Namen hat.

Dem Möglichen Kraft geben

Unsere inneren Bilder kreieren die Wirklichkeit. Was sehen wir vor unserem inneren Auge? Haben wir Angst vor einer Situation? Oder sehen wir immer wieder die neuen Möglichkeiten, die das Leben bietet? Wir Fachleute sind keine unbeschriebenen Blätter. Wir haben viele Verläufe von Geschichten nur fragmentiert und in Notsituationen gesehen. Es ist nicht immer klar, ob uns alte Geschichten halten oder ob die neue Situation Unruhe auslöst.

 

Ich stelle mir eine Welt vor, in der man sagen darf, dass die Angst, angeklagt zu werden, die Handlung bestimmt.

 

Wenn diese Ehrlichkeit da ist, können neue Möglichkeiten gesucht werden. Vielleicht braucht es dann mehr Menschen, die beistehen und die helfen neue Wege zu finden. 

Gegenseitige Akzeptanz 

Wenn die Seiten „gesellschaftlich-schulmedizinische Geburtshilfe“, kurz «Geburtsmedizin» und die „emotional-begleitete Physiologie“, kurz «Geburtsbegleitung» sich wie zwei scheinbare Fronten gegenüberstehen, kann sich – wenn sich die zwei einander zuwenden - dazwischen ein Raum bilden, ein Resonanzraum. Es kann eine Schwingung möglich werden für etwas Neues, ein Rhythmus für Entwicklung. Vielleicht werden die zwei erst zusammen zum Ganzen. Sich einander zuwenden, heisst für mich, einander zuhören, einander verstehen wollen, ehrlich zu sein, den andern nicht ändern zu wollen und seine Grenzen zu akzeptieren. Das kann zum Ausdruck kommen, wenn gemeinsam Fälle besprochen werden, in Intervisionen und in neuen Formen des Wissensaustauschs.

Zeit haben

Mir hilft es Zeit zu haben mit den Frauen und Kindern. Ärzte haben viel weniger Zeit. Sie müssen in möglichst wenig Zeit viele Frauen effektiv betreuen, um dem Anspruch nach Wirtschaftlichkeit gerecht zu werden. Wirtschaftlichkeit und individuelle Betreuung passen nicht immer zusammen. Wie wäre es, wenn da mehr möglich wäre? 

Transparenz schaffen

Indem alle Beteiligten eines Grenzfalls an einem Tisch sitzen und ihr Anliegen einbringen. Damit werden alle Gefühle, Schwierigkeiten, Ängste und der Druck klar. So kann der Arzt seine Bedenken, die er bezüglich der Übertragung hat, darlegen und es wird mit der Klinik der Hebamme ersichtlich, dass es sich dabei nur um Meinungen handelt. Wenn sich dann die Eltern mit einer Begleitperson mit ihrem Gefühl für das Kind einbringen können, kriegt diese Seite einen realen Wert. Das entlastet und bestärkt alle gleichzeitig. Damit ist die Frau ins ganze Geschehen mit seiner gesellschaftlich-gesetzlichen Komponente einbezogen und wird nicht einfach einer medizinischen Machthandlung ausgesetzt. 

Tragen wir all unser Wissen zusammen

Sei es von den Frauen, den Kindern, den Männern, anderen Kindern, Haustieren, Therapeuten, Hebammen, Ärzten, evt. auch medizinischen Geräten und allen, die sonst noch relevant mit der Geburt zu tun haben.

Leben ist ein Geschenk

Ich glaube, dass niemand verantwortlich ist für das Leben. Wir können ihm unser Vertrauen, unsere Achtung und unsere Liebe schenken. Es geschieht einfach, ohne dass wir was tun müssen.


Lichtblicke für eine menschenwürdige Geburtshilfe - Teil 1 © Barbara Stemmler 2020

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